Let’s start a revolution from our beds


Wieder neigt sich ein Jahr dem Ende zu, in 30 Stunden ist 2011’s letztes Stündlein geschlagen. Mein persönliches Lieblingswort diesen Jahres: eindeutig Selbstreflexion. Naturgemäß geht jeder Mensch dieser, gerade jetzt, zur Zeit des Jahreswechsels, nach. Man beschäftigt sich damit, was man in den letzten zwölf Monaten erreicht und versäumt hat, zieht Bilanz, rekapituliert, begleicht Rechnungen oder nimmt sich vor, einige im nächsten Jahr zu begleichen, nicht zu vergessen, mehr Sport, weniger Alkohol, etc.

Interessanterweise scheint sich, wenn man sich ein wenig umhört, eine gewisse Melancholie breit zu machen. Ein Fin de Siècle-Gefühl, wenn man mich fragt. Damals war es eine Jahrhundertwende, für damalige Verhältnisse rasanter Fortschritt und Industrialisierung, neue Erkenntnisse in Physik, Biologie und Psychoanalyse, die die Menschen ermüden ließen. Ermüdung und Erschöpfung, Nervosität bis hin zu Hysterie, waren um 1900 die Schlagworte. Physikalische Begrifflichkeiten der Kraft und Energie wurden übertragen auf den Menschen, dessen Energie wiederum in Anbetracht der unaufhaltsamen Modernisierung erschöpfbar schien.

Was hat sich nun, bezogen auf diesen vorletzten Tag im Jahr 2011 geändert? In der Grundstimmung so ungefähr gar nichts. Nur nennt sich das kollektive fed up-Gefühl heute Burn out. Waren es damals Eisenbahnen und Nervensysteme, die Mensch flashten, das Wachstum von Großstädten – diese Schnelligkeit erscheint uns heute als Slow Motion. Wir haben das Internet, Autobahnen, Fast Food, One Night Stands, ein Leben auf der Überholspur. So lange, bis wir meinen, mal wieder „ausgebrannt“ zu sein und uns den nächsten Wellness-Trip buchen.

Freuds eingeführte Sprech-Therapie ist lange schon salonfähig, und wer den Weg zum Therapeuten noch nicht gefunden hat, analysiert sich eben selbst mittels Wikipedia oder kauft sich Globulis beim Homöopathen. Damalige Krisenstimmung ist auch heute noch präsent, Wirtschaftskrise, okkupieren wir halt, schrei nach Revolution, was wir ändern wollen, wissen wir aber selber nicht. Aus dem Dandy des 18ten Jahrhunderts wird der Hipster, aus der Hysterikerin die Drama-Queen, ja, wir sind alle totale Individualisten. Wie man also sieht, haben wir uns nicht nur technisch, nein auch menschlich, total weiterentwickelt.

Übersehen hierbei aber, dass das was passiert, eben nichts Neues ist. Merkmal der Postmoderne, oder sagen wir, unserer aktuellen Moderne ist es nun mal, Altes aufzugreifen und neu zu verwerten – sei es in Film, Kunst oder Mode. Und mit Sicherheit lässt sich selbstreflexives Krisengedöhns ebenso wie die Ermüdung von aktuellen Gegebenheiten nicht nur in jedem Jahrzehnt, sondern wohl auch subjektiv im Einzelnen jedes Jahr aufs Neue wiederfinden. Genauso die Gegenopposition der Freigeister, die für mehr Positivität dagegenhält. Warum also überhaupt so viel reflektieren, wenn der Gesamtzusammenhang uns epochal doch sowieso erst auf dem Sterbebett einleuchtet?

Die desillusionistische Tendenz im Fin de Siècle führte damals in den ersten Weltkrieg, zerstöre Altes, baue Neues auf, überzogen formuliert. Der Ansatz wäre heute vielleicht– vom Globalen zum Einzelnen - gar nicht verkehrt, starten wir also, mit besten Vorsätzen versehen, ermüdet, a revolution from our beds: Eine Revolution in uns selbst.


Kopf vs. Bauch


Bild: fuckyouverymuch.dk

„Hör auf zu denken!“ denke ich mir und mache trotzdem weiter. Oder gerade deswegen. Oszillierend zwischen stream of consciousness und Leerlauf starre ich aus dem Fenster, kalter Rauch steigt aus dem Aschenbecher, draußen ist es dunkel, in meinem Kopf auch, Birne aus in der Birne. Wo das rettende Lämpchen darüber? Klick, Kopf aus, Gefühl an, und in vice versa, dem Versuch nach zumindest.

Scheinen sich heute nicht so recht einig zu werden, die beiden. Wie so oft. Oben schwindelts, der Restalkohol pocht mahnend an die Schläfen, unten grummelts, in der Mitte seltsames Wirrwarr. Vertrau deinem Bauchgefühl, höre ich oft sagen, mit einem „aber“ in gleichem Atemzug.

Agiere intuitiv, tu was dein Bauch und dein Herz dir sagen, fühlt sich nur so lange gut an, bis die Vernunft sich einschaltet und versucht dazwischen zu reden.  Und dann erfolgt ewiger innerer Monolog, bis du dich im besten Fall klar entschieden hast – im schlimmsten bist du verwirrter denn je und starrst eben aus dem Fenster. Und suchst nach Antworten im Dunkeln.  

Überlegst, spielst Szenarien durch, nimmst Gedanken und Fäden auf, verwirfst sie wieder, gehst irgendwann ins Bett, starrst weiter ins Dunkel. Mehrmals am Tag haben sowohl  Kopf als Bauch die Schnauze gehörig voll. Du beschließt also, dich kurzzeitig auf der rationalen Seite befindend, „loszulassen“. Welch wundervolle Redewendung. Die leider aber nicht aus einem rational gefassten Entschluss resultieren kann, sondern eben nur dann, wenn du einfach damit beginnst, es zu tun.  

Was tust du also stattdessen? Keilst dich ein in Mauern von Eventualitäten und Inbetrachtziehungen, tauchst in ein Lawinenmeer von Assoziationen, drohst zu ertrinken, mühst dich hin und wieder an die Oberfläche, um nach Luft zu schnappen, siehst die Küste, verlierst sie wieder aus den Augen. Verlierst dich selbst für unbestimmte Zeit, aber Zeit ist in solchen Zuständen sowieso kein messbarer Faktor, scheint sie einerseits nicht zu vergehen und andererseits ist plötzlich Ende der Woche und du hast nichts auf die Reihe gebracht, das du hättest machen müssen. Procrastination.

Drehst dich im Kreis, schwankst torkelnd und unbeholfen, entschlossen unentschlossen, auf Metabenen, Teil der Lösung oder Teil des Problems? Änderst deine Meinung drei bis fünfzehn mal am Tag, ebenso wie das aktuelle Lieblingslied, das deine Stimmung  am ehesten stützt, hängst fest in Zahlensymbolik und philosophischem Gedöhns. Greifst nach Strohhalmen, findest kurz gefühlten Halt, um es dann selbst wieder zu zerreden.

An den Strand gespült von rhetorischen Fragen an dich selbst stehst du nun also in deinem persönlichen Limbus und fragst dich, wer zur Hölle es gewagt hat, dir diesen Nonsense einzusäen. Und wo der rettende Kick bleibt. Vielleicht hilft ja Piaf in Dauerschleife... Wahrscheinlich ist aber der Weg das Ziel. Drehen wir uns also ein bisschen weiter, bis der Kreisel fällt und mit ihm alle Bedenken. Und erfreuen uns in der Zwischenzeit am kleinsten Maß der Produktivität: kathartische ins Leere laufende textliche Momentaufnahmen.

Über das Kommentierverhalten großspuriger Kleinstädter


Bild: http://neunzehn80.de/2011/03/04/facebook-like-button-mal-anders/

Was wäre unser Ego nur ohne Facebook. Soeben sah ich die neue Frisur sowie Haarfarbe einer Bekannten mit sage und schreibe 111 Kommentaren. Ich war geplättet. Was mag sich hinter einer solchen Zahl wohl geistreiches verbergen? – fragte ich mich und klickte neugierig auf „see more“. Gimme gimme more? Hätte ich es mal lieber gelassen und mich mit wirklich wichtigen Dingen beschäftigt, die ich aber ja sowieso aufschiebe, weil Facebook immer was von mir will. Beim Überfliegen der Kommentare also, nennen wir es ein einige Minuten währendes Selbstexperiment -wie lange wird mein Intellekt wohl aushalten, bis es schreiend sich abwendet, zur Beruhigungszigarette und zum französischen Drehbuchlektorat greift? – lernte ich soeben, dass Kommentar auch mit „Kommi“ abgekürzt werden kann und fand das äußerst fesch.

Nun, dass Facebook-Geposte ebenso wie Kommentiere eine einzige große Selbstbeweihräucherung ist, ist nichts Neues. Mit jedem Like ein Egoboost für dein Gesicht, deine Titten, deine neuen Schuhe, deine Originalität und wohlüberlegte Individualität, deinen Esprit, deinen Witz, deine Meinung. Viel Raum für dosierte überlegene Überlegungen oder etwa Philosophisches ist da nicht, geht ja sowieso unter zwischen Everyday-Bullshit arbeitender Menschen, die keine Lust haben oder ähnlichem, ja, mittlerweile geht es sogar schon soweit, dass geschrieben wird „Oh ich habe Lust etwas zu posten aber ich weiß grad nicht was, haha!“

Ja, haha. Und wir alle lesen mit. Millionen Trillionen von Terrabytes an Scheiße und Kloake in den Kanalisationen meiner Gehirnwindungen. Ich kann nicht mal was dafür! Ich überfliege das Gepostete in der Hoffnung auf etwas zu stoßen, das mir wirklich mal gefällt! Interessante Info von einem Mitmenschen, mit dem ich nichts zu tun habe, her damit! Damit ich es im Chat gleich dem nächstbesten kopieren kann! Stattdessen ein Post mehr über das Wetter oder die Katze. Ja, unter meinen Freunden befindet sich eine Katzenfreundin/-fanatikerin. Ich weiß jetzt, dass ihre Katze in ihrer Heimatstadt viel leichter ist als die, die sie in ihre neue Stadt mitgenommen hat. Warum ich mir das merke?? Warum ich das überhaupt lese?? Einerseits ist es natürlich eine gewisse Neugier, die einen vom Blockieren abhält. Das ist wie bei einem Autounfall. Wir voyeuristische, schaulustige Scheißmeute! Mit großen Augen betrachten wir diese geistige Massenkarambolage und stehen aber nur dabei und gaffen weiter.

Wobei, ab und zu mache ich mir einen kleinen Spaß draus und kommentiere ein bisschen frech von links. Vielleicht auch rechts. Ganz nach Laune. Mit Ironie ein wenig Salz in die Wunde, zur eigenen Belustigung, versteht ja sowieso keiner, außer die eine gemeinsame Freundin, die kichernd meinen Kommentar likt. Womit wir unserer eigenen Erhabenheit fröhnen und uns imaginär High-Five über die Köpfe der Anderen hinweg geben. Das mit den Kommentar-Likes nimmt, davon sprechend, aber auch seltsame Eigendynamik an. Man betrachte erwähnte, in der Zwischenzeit 117, Frisuren-Kommentare. Jeder Kommentar ein Treffer. Oooooh soooo hüüüüüpschiiiiii Herzchen Herzchen Herzchen Zwinker Zwinker! Hab dich lieb! Essentiell und unerlässlich ist bei solchen Kommentargefechten auf jeden Fall, ungeschriebenes Facebook-Gesetz: der letzte Kommentar gefällt. Grundsätzlich! Die eins am Ende des Verlaufs markiert selbiges Ende.

Gleich laufe ich Amok und fange einfach mal an, bei allem „Gefällt mir“ zu drücken. Schade nur, dass niemand es verstehen wird. Oder es mir noch krumm nehmen könnte. Der Grat zwischen Bosheit, Hinterfotzigkeit und zwinkernder Ironie, zwischen ernst und (sich) zu ernst nehmen, zwischen Gefallen und Gefallsucht, zwischen Ton, Unter-, Überton, Verständnis von Humor, scheint mitunter ein schmaler. Wer das jetzt verstanden hat, gibt mir einfach mal Low Five.




Der Gott des Gemetzels


Bild: spielfilm.de

Vier Schauspieler – Christoph Waltz, Kate Winslet, Jodie Foster, John C. Reilly, eine Wohnung, oder sagen wir, Bühne (nach dem Stück von Yasmina Rezas) – können auch mal reichen. Kein 3D, kein übertriebenes Setting, kein überflüssiger Schnickschnack, kein „Wischi-Waschi“: die Dialoge und Schauspieler müssen genügen.

Und wie sie das tun. Zwei Oppositionen, high-class-work-fidelity und Mittelklassen-Durchschnitts-Kunstliebhaber-Bürger, die aufeinandertreffen, um sich auszusprechen, da Sohn der Ersteren dem Sohn der Zweiteren die Schneidezähne, bewaffnet, nein sagen wir, bestückt, mit einem Ast, ausgeschlagen hat. Entschuldigungen, Versicherungen, und die Sache ist vom Tisch, so sollte man meinen. Auf den Tisch kommt im Verlaufe des eigentlichen Schlichtungsversuchs aber die ein oder andere Sache mehr.

Denn anstatt zu schlichten, verrennen sich beide Paare, gleichwohl wie der Zuschauer hineingezogen wird, immer mehr in einen Strudel von Unterstellungen, Schuldzuweisungen, Vorurteilen, irgendwann auch Alkohol. Jedoch verliert der Film, (oder: das Stück, das Kammerspiel - denn sein Ursprung lässt sich auch mit filmischer Umsetzung, Kameraführung und Schnitt, nicht leugnen) trotz konfliktgeladener Dialektik an keiner Stelle seinen Humor. Höchst pointiert und auf den Punkt gebracht bleibt dem Zuschauer nichts anderes, als der Farce zu folgen.

Eine Farce, die nur durch das Schauspiel getragen werden kann und wird. Waltz, grandios, wie man ihn kennt, stellt sein über allem stehendes Lächeln zur Schau, wenn er nicht gerade das Gespräch für ein Telefonat unterbrechen muss und lässig am nächstgelegenen Mobiliar lehnt. Reilly, das Gesicht, das man meint von irgendwoher zu kennen, aber man weiß nicht mehr aus welchem Film ... mutiert von zuvorkommendem Gastgeber zum selbsternannten Choleriker. Winslet dekonstruiert ihr gestrigeltes Stewardess-look-a-like-Auftreten herrlich bis hin zum betrunken säuselnden. Und die Foster bricht endlich mal aus – selten stand einer Schauspielerin Altern so gut.

Jeder der vier Protagonisten ist mal Gewinner, mal am Boden liegender Verlierer. Opfer seiner Ehe, seines Lebenswandels, seiner eigenen Einstellung. Reihum verbünden sich zuerst die Partner, dann switcht es wieder ... und der Zuschauer mit. Es erfolgt im Laufe des Films eine Identifikation mit jedem einzelnen Charakter – Empathie und Antipathie gleichermaßen. Bei einer solchen Konstellation kann es letztlich keinen Gewinner oder Verlierer geben. Am Ende gewinnt – der Kinogänger selbst.