In einer Zeit, in der sie kaum noch gelesen, kaum noch beachtet werden, traut sich Markus Breidenich - und schreibt Gedichte. Davon gleich 83 Stück, zusammengefasst unter dem Titel „Am Milchstraßenrand“. Umso mehr verwundert es, da es sich bei dem Autor um einen promovierten Physiker handelt. Teils so sehr codiert, dass sich der Inhalt dem Leser kaum oder nur mühsam erschließt, wagt der Autor einen mehr oder weniger poetischen Streifzug durch den Raum und die Zeit von heute, und lässt dabei sein Fachgebiet keineswegs ungeachtet. Neben den Planeten unseres Sonnensystems, denen jeweils ein Gedicht gewidmet ist (sogar Pluto, dessen Aufgabe nun das „Nicht-mehr-unter-uns-Sein“ ist, da ihm der Planetenstatus aberkannt wurde), liegt sein Hauptaugenmerk auf der Erde, Terra, am Milchstraßenrand, wo sich nun ganz andere Galaxien auftun: zum Beispiel das Internet, eine neue Form von „unerklärlicher Weite“. Und der Tod, der ewige Kreislauf, bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen, dem kleinsten gemeinsame Nenner- dem „Du“ und „Ich“.
Bereits im ersten Gedicht, „Video“, fällt der Satz: „Fiat Lux.“- was soviel heißt wie:„Es werde Licht!“, und auch später geht er auf die Entstehung der Menschheit ein, wie z.B. in „Evolution“ oder „Genpool“. Lange hält er sich jedoch dabei nicht auf, denn schnell wird der Leser übergeleitet zu Fragen des aktuellen Zeitgeschehens. „In den Resten des Grüns“ schneidet er das Thema Wiederverwertbarkeit an, und meint damit auch den Menschen selbst und seine Gedanken. Im Weiteren wird u.a. angespielt auf Dolly, das geklonte Schaf, vor allem aber wird schnell klar: hier wird explizit Bezug genommen auf Ereignisse von 2008/2009. In „Luftbild“ übt Breidenich Kritik an der Wirtschaft, schreibt, es gäbe „kein Säen, kein Ernten“. Auch unter der Überschrift „Grünanlagen“ findet sich in der Natur, nicht wie früher in der Romantik, das Göttliche verschleiert, sondern vielmehr die Wirtschaftskrise, zum Beispiel im Gedicht „Ökosystem“, das auf die Kurzabreit und die wirtschaftliche Lage in Deutschland anspielt. Auch das vor allem in Bayern viel diskutierte Rauchverbot wird nicht ausgespart („Bayern1“), ebenso wie die sogenannte „Lidl-Affäre“, bei der die heimliche Aufzeichnung von Mitarbeitern eines Discounters durch alle Medien ging („Kunde davon“).
„In den Schächten des Netzwerks“, so die Überschrift des vierten Kapitels, ist dem Medium Internet gewidmet. Es finden sich Gedichte zu Facebook, Flickr, My Space, Twitter, zu Webcams, Festplatten. Man spürt leise Kritik, denn „wir sind abgeschnitten voneinander“, und „gelegentlich spürten wir Wärme. Wenn die Lüftung nicht ging, keine Laptops rauschten, und wir ausgegangen waren.“. Bezeichnend für die heutige Internetgesellschaft ist gerade das „Ausgehen“, das sowohl das menschliche Ausgehen als auch das Ausgehen des Computers impliziert, welches automatisch eine Trennung von der Internet-Community voraussetzen würde. Aber sogar diesem wirken Seiten wie Twitter entgegen, denn mittlerweile muss jeder jedem mitteilen, wo er sich gerade aufhält, was er tut und mit wem. Leider identifizieren sich immer mehr Menschen mit Internetprofilen, haben Internetfreunde, suchen Internetbekanntschaften. Schade nur, dass diese Menschen wohl kaum Gedichte lesen, mit Ausnahme vielleicht der User von Neon.de, die Texte verfassen und diese online diskutieren.
Was aber die eigentliche Intention eines Dichters angeht, von seinen Gefühlen, von großen Emotionen zu sprechen, so spürt man diese hier nicht oder nur kaum. Zwar spricht das lyrische Ich immer wieder verklärt von Trennung, von einem „Du“ und einem „Wir“, von dem jetzt nur noch im Imperfekt zu sprechen sei, oder zeichnet in „Biotopisch I / II“ das Bild einer männermordenden Spinnenfrau. Auch scheinen andere Gedichte von Verlust, Krankheit zu handeln, wobei jemand unter die Erde gebracht werden musste. Hierbei wird der Leser aber nicht sonderlich berührt, die Position und der Ton des lyrischen Ichs scheinen zu neutral, vielleicht hat es sich schon längst mit seiner Situation abgefunden. Vielleicht hat es, oder er, wenn wir das lyrische Ich dem Autor zuschreiben wollen, aber auch durch die vielen Geschehnisse der letzten Jahre, die er hier in seinen Gedichten zusammenfasst, ein stückweit sich selbst verloren, ist abgestumpft, als sehe und fühle er vor lauter Planeten und Kosmos das Wesentliche nicht mehr. Und wartet auf das Nordlicht, das ihn wieder zurückbringt. Doch dies bringt den Leser auch nicht weiter.
Denn wie eingangs schon erwähnt, sind die Gedichte Breidenichs nur schwer zugänglich. Die Themen und Bezüge sind teilweise so undurchsichtig, dass der Leser die Aussage kaum fassen kann. Der Autor bedient sich in vielen Gedichten so sehr eigener Metaphern und Assoziationen, dass diese einfach nicht nachzuvollziehen sind. Zum Beispiel stellt sich die Frage, warum er immer wieder griechische Mythen, wie Medusa aufgreift. Oder was es mit dem „Logbuch der Beagle“ auf sich hat. Vieles erscheint sehr verschleiert, aber vielleicht ist es gerade diese Verschleierung, die einen gewissen Reiz ausmacht und eine fast mystische Stimmung schafft. Man möchte verstehen, was der Autor zu sagen hat, dies erfordert aber einen hohen Assoziationsgrad und eine Kenntnis der aktuellen Zeitbezüge, letztendlich bleibt das Werk aber dennoch zu komplex und der Leser mit Fragen zurück. Zudem ist es fraglich, welchen Wert die Gedichte in ein paar Jahren oder Jahrzehnten haben werden, wenn dem Leser durch den fehlenden Zeitbezug die Verständlichkeit noch mehr erschwert wird.
Zwar werden auch heute noch gerne Gedichte der Romantik gelesen, in der Chiffre verwendet wurden, deren Bedeutung man nur noch mutmaßen kann. Aber diese Gedichte zeichnen sich auch durch eine besondere Sprache aus, durch Verse und Reime die allgemeingültig als „schön“ angesehen werden.
Die Sprache der Breidenich-Gedichte jedoch, erscheint, typisch für die Postmoderne, im ersten Moment zu ungebunden, was mangeln lässt. Das bloße Aneinanderreihen von Sätzen wird nicht als poetisch empfunden und liest sich fast wie Prosa. Da der Autor aber sowieso nicht in hochtrabenden Emotionen schwelgt, was vielleicht auch an seinen eigentlichen naturwissenschaftlichen Wurzeln liegen mag, ist die formale Neutralität in diesem Falle auf seine eigene Art irgendwie passend. Hinzu kommt die doch vorhandene poetische und auch teils gehobene Wortwahl, auch Fachbegriffe (Ephermeriden…?), derer sich der Physiker zu Hauf zu bedienen weiß, die dem Ganzen einen eigenen Stil verleihen, der vielleicht nicht einfach ist, aber auch ohne Reime auskommt. Diesen sehr eigenen Stil bereichern Wortspiele wie „sternhagelvoll wie der Himmel war“ oder „das Licht fiel aus allen Wolken“, die den Leser schmunzeln lassen und dazu führen, dass sich dem Autor letztendlich eine gewisse poetische Ebene dann doch nicht absprechen lässt.
Abschließend bleibt zu sagen, dass es sich bei Markus Breidenichs „Am Milchstraßenrand“ trotz aktueller Zeitbezüge um schwer verdauliche Kost handelt, was sicherlich unter Anderem auch daher rührt, dass hier ein von den Naturwissenschaften zur Poesie übergelaufener Dichter nicht von seiner eigentlichen Profession lassen kann und die Physik ständig in seine Gedichte miteinbezieht. So sehr sich der Leser auch bemühen wird, ganz hinter die Gedichte kommen wird er nicht, zumindest nicht ohne umfangreichste Recherche, die wohl kaum einer auf sich nehmen wollen wird. Ob er es nun dabei belässt, dieser Umstand sogar sein Vergnügen steigern wird, oder ob er ihn zur Verzweiflung bringt, sei ihm selbst überlassen.
Was Breidenich damit wirklich sagen will, bleibt gekonnt verschleiert, und wahrscheinlich wollte er das auch so. Andernfalls hätte er es ja über Twitter sagen können.